FluiD im Format
FluiD im Format
Rechtliche Lage nonbinärer Personen mit Chris Heer (@chris_cripping)
In der sechsten Folge von FluiD im Format sprechen wir mit Chris Heer (@chris_cripping) - Aktivist*in, Künstler*in und Berufsbehinderte* bei AGILE.ch - über die rechtliche Lage nonbinärer Personen. Gemeinsam mit Chris gehen wir den Fragen nach, wie Recht überhaupt entsteht, in welchem Kontext die Internationalen Menschenrechte entstanden sind und wie die Schweiz im Bereich Menschenrechte für binäre trans und nonbinäre Personen abschneidet. Chris erklärt er uns auch, wie Politik und Recht miteinander verknüpft sind und weshalb es Demonstration oder Besetzungen braucht, um rechtliche Ungerechtigkeiten zu überwinden.
Da es uns ein Anliegen ist, dieses Radioformat möglichst inklusiv zu machen, werden wir so schnell wie möglich eine Transkription des Audios zur Verfügung stellen.
Sendung mit:
Meret* Heuss, Tiziana Jäggi, Nina Rothenberger und Chris Heer
Snacks:
SRF DOK “Hass gegen LGBTQ+ - Von Diskriminierung und Widerstand”
Trigger Warnung: Enthält Erzählungen von körperlicher und psychischer Gewalt; Queerfeindlichkeit wird gezeigt
Kostenlose Rechtsberatung für trans Personen von TGNS (Transgender Network Switzerland): https://www.tgns.ch/de/beratung/recht/
Selber aktiv werden und sich für Menschenrechte von binären trans und nonbinären Personen einsetzen bei QUEERAMNESTY: https://queeramnesty.ch/
Song Liste:
OK not to be OK - Marshmello, Demi Lovato
Fluid - Basit
FluiD im Format-Jingle - ®iginal ©py
Ressourcen:
Ally Definition:
Stigma und Diskriminierung:
- Link, B. G., & Phelan, J. C. (2001). Conceptualizing Stigma. Annual Review of Sociology, 27(1), 363–385. https://doi.org/10.1146/annurev.soc.27.1.363
- White Hughto, J. M., Reisner, S. L., & Pachankis, J. E. (2015). Transgender stigma and health: A critical review of stigma determinants, mechanisms, and interventions. Social Science & Medicine, 147, 222–231. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2015.11.010
Nina: “Hallo und herzlich willkommen bei FluiD im Format, dein Podcast zum Thema Nonbinarität. Mein Name ist Nina und über mich spricht man mit den Pronomen sie und ihre und ich bin cis. In dieser Radioshow spreche ich jeden Monat mit einem Gegenüber aus der nonbinären Community über ein spezifisches Thema. Dabei stelle ich allerlei Fragen stellvertretend für die Zuhörenden. Diese Sendung mache ich natürlich nicht alleine. Wir produzieren sie zu Dritt.”
Meret*: “Hallo Zusammen ich bin Meret*. Ich bin nonbinär und über mich spricht man ohne Pronomen. Unter dem Namen ®iginal ©py produziere ich Beats und bin auch als DJ unterwegs. In dieser Sendung kümmere ich mich um die Kuration von Themen, Musik und Besuchspersonen.”
Tizi: “Hallo, ich bin Tizi. Ich benutze die Pronomen sie/ihre und ich bin cis. Als Psychologin bin ich in dieser Sendung für die Recherche zuständig und schlage die Brücke zwischen Wissenschaft und Publikum.”
[Musik: Jingle FluiD im Format]
Nina: “Heute sprechen wir über das Thema rechtliche Lage nonbinärer Personen in der Schweiz und weltweit. Damit wir für alle Personen möglichst zugänglich sind, erklären wir zum Einstieg die wichtigsten Begriffe rund um das Thema Nonbinarität. Tizi, was bedeutet eigentlich Nonbinarität?”
Tizi: “Wenn über Nonbinarität gesprochen wird, spricht man über Geschlechtsidentität. Geschlechtsidentität heisst mit welchem Geschlecht sich eine Person identifiziert, wir sprechen also von einem inneren Gefühl oder Zugehörigkeit, das sieht man einer Person nicht an. Geschlechtsidentität ist unabhängig vom Körper oder von den Geschlechtsorganen, die eine Person hat und Geschlechtsidentität hat im engeren Sinn nichts mit Sexualität zu tun. Die Geschlechtsidentität von nonbinären Menschen stimmt nicht mit dem Geschlecht überein, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde, also Mann oder Frau. Die Definition trifft ebenfalls auf binäre trans Personen zu, aber nonbinäre Menschen lehnen das binäre Geschlechterbild, das in unserer Gesellschaft vorherrscht, ab. Ihre Geschlechtsidentität ist also vielfältiger als Mann oder Frau. Neben binären trans und nonbinären Personen gibt es auch cis Personen: denen ihre Geschlechtsidentität stimmt mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht überein.”
Nina: “Und von wie vielen nonbinären Personen in der Schweiz geht man davon aus?”
Tizi: “Für die Schweiz gibt‘s soweit keine konkreten Zahlen über die Anzahl nonbinärer Personen. Aus verschiedenen internationalen Studien kann abgeschätzt werden, dass es um die 1% der Gesellschaft sein könnte. Das würde für die Schweiz heissen plus/minus 80’000 Menschen und potentielle Besuchspersonen für unseren Podcast.”
Nina: “Vielen Dank für deine guten Erklärungen, Tizi. Wir erläutern noch einen Begriff, welcher heute in der Sendung mit Chris vorkommen wird. Das versteht man unter einer Ally-Person.”
Tizi: “Ally ist ein englischsprachiger Begriff und heisst auf Deutsch übersetzt auch: Verbündete*r, Unterstützer*in oder Fürsprecher*in. Und es ist eine Person, die selbst nicht Teil einer marginalisierten Gruppe, z.B. der nonbinären u/o trans Community, ist, aber diese aktiv unterstützt, wird als Ally oder Fürsprecher*in bezeichnet. Sie arbeitet aktiv daran, Intoleranz zu beenden, klärt andere Menschen über die Belange der marginalisierten Gruppe auf und nutzt ihre Position, nicht Teil der marginalisierten Gruppe zu sein, um sich für die Gleichstellung diskriminierter Personen einzusetzen.”
Nina: “Als nächstes hören wir ‘OK not to be OK’ von Demi Lovato. Demi Lovato hat Mitte Mai - also erst gerade kürzlich - auf Instagram die nonbinäre Identität öffentlich gemacht und schreibt dazu: ‘Ich bin stolz, euch heute wissen zu lassen, dass ich mich als nonbinär identifiziere und meine Pronomen ab jetzt offiziell they/them sind. Das kommt nach viel Heilungs- und Selbstreflexionsarbeit. Ich lerne noch immer bei mir selber anzukommen, ich habe nicht den Anspruch als Repräsentationsperson zu gelten. Dies mit Euch zu teilen, öffnet einen neuen Grad an Verletzlichkeit für mich. Ich mache dies für alle da draussen, die nicht die Möglichkeit haben, mit ihren Liebsten zu teilen, wie sie wirklich sind. Bitte lebt weiterhin eure Wahrheiten’ (Anmerkung: Original in Englisch, von der Redaktion übersetzt)”
[Musik: OK not to be OK - Demi Lovato]
Nina: “Hallo und willkommen bei einer neuen Folge FluiD im Format auf gds.fm. Heute sprechen wir über die rechtliche Situation nonbinärer Personen in der Schweiz und weltweit gegenüber von mir begrüsse ich ganz, ganz herzlich Chris. Wie ich schon in der letzten Episode etwas etabliert habe, beschreibe ich dich gerade in deinen eigenen Worten, die ich auf deinem Instagram gefunden habe, dort steht nämlich: ‚Geboren in der Schweiz mit nur einem Bein, politische Aktivist*in, genderfluid, ehemalige Paralympische Schwimmer*in, Scuba-Taucher*in und Haifisch-Liebhaber*in.“
Chris: „Genau.“
Nina: „Ich bin Nina, ich verwende die Pronomen sie und ihre. Welche Pronomen verwendest du und wie verwendet man sie richtig?“
Chris: „Ich verwende im Deutschen die Pronomen sie und ihre, im Englischen bevorzuge ich they/them. Im Deutschen bin ich beim sie geblieben, weil ich keine gute Alternative zu they/them finde im Deutschen, genau.“
Nina: „Wenn du magst und dich dabei wohlfühlst, uns deine Identität zu beschreiben als Einstieg in die Sendung.“
Chris: „Ja, gerne. Es ist eben bei mir sehr fluid (lacht). Ich merke eigentlich schon länger, dass ich nicht in diese Rolle reinpasse, aber habe erst so vor 2, 3 Jahren gemerkt, dass es Leute gibt, die sich einfach von dem abwenden und so finden: ‚Nein, ich bin weder das eine noch das andere, noch etwas dazwischen.‘ Und ich fand das so faszinierend und habe gedacht: ‚Eigentlich ist das auch für mich.‘ Aber ich präsentiere mich immer noch sehr weiblich und deshalb habe ich lange gedacht: ‚Ich kann das nicht für mich claimen, da müsste ich androgyner sein, oder ja‘. Ich habe mich dann einfach sehr lange damit auseinandergesetzt, mit mir selber und habe mich mit anderen nonbinären Personen ausgetauscht und habe dann gemerkt: ‚Ah ja, wenn ich darüber nachdenke und wenn das schon ein Thema ist für mich selber, dann ist das auch okay, das anzunehmen‘. Genau.
Und ich hab euch ja noch ein Audio mitgebracht (lacht), das mich auch bestärkt hat und zwar ist das Sissy von Jacob Tobia und dort beschreibt Jacob eben auch, dass Genderidentität oder eben auch Geschlechtsidentität etwas fluides ist und nicht immer gleich und dass es manchmal eben mehr in Richtung männlich geht oder in Richtung weiblich und das hat mich sehr angesprochen und da fand ich: ‚Ja, für mich ist das auch so.‘ Und das hat mich sehr bestärkt zu meinem Coming Out.“
Nina: „Dann würde ich sagen, wir hören da gleich in die besagte Stelle zusammen rein. Viel Spass beim Hören.“
Audioartefakt: Ausschnitt aus Jacob Tobias “Sissy - A Coming-of-Gender Story” (Deutsche Übersetzung der Redaktion):
Unsere Geschlechtsidentität ist in ständigem Wandel. Wir alle wachsen und entwickeln uns, graben und erneuern. Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug neue Facetten meines Geschlechts entdecken. Und so ist mein Coming-out nie abgeschlossen. Meine Eltern (und alle anderen in meinem Leben) werden noch bis zu ihrem Ruhestand neue Dinge über mein Geschlecht und meine Sexualität lernen, weil ich immer noch neue Dinge entdecke. Für mich ist das Coming-out weniger wie ein Kleiderschrank und mehr wie ein Software-Update. Ich gehe los, entwickle meinen Code weiter, ändere meinen Algorithmus, um besser, stärker, schneller zu sein; und alle paar Monate bekommen die Menschen in meinem Leben ein Update für ihr Betriebssystem. Manchmal sind die Upgrades so umfangreich, dass man den Computer vor sich kaum noch erkennen kann. Man muss der Umgang mit dem System von Grund auf neu gelernt werden. Ganz von vorne anfangen. Manchmal sind die Upgrades kosmetisch, aber tiefgreifend, wie zum Beispiel, als Emojis zur Standardtastatur des iPhone hinzugefügt wurden. Manchmal ist das Upgrade so winzig oder hinter den Kulissen, dass Sie es nicht bemerken. Aber egal, wie alt Sie werden, es wird immer ein weiteres Upgrade geben.
[Musik: Jingle FluiD im Format]
Nina: „Genau. Um in das heutige Thema der rechtlichen Situation einzusteigen, würde es mich persönlich interessieren, was dein Zugang zu Recht ist.“
Chris: „Ja, ich habe mich halt schon früh als Kind oder Jugendliche eingeschränkt gefühlt vom Recht. Als Mensch mit Behinderung bin ich sehr betroffen von Verfügungen, von der IV und habe das zum Teil nicht verstanden. Aus diesem Grund und plus, weil ich einen grossen Gerechtigkeitssinn habe, habe ich dann Jus studiert. Obwohl ich dann gemerkt habe – natürlich (lacht) – das Recht und Gerechtigkeit nicht das Gleiche ist, aber es hilft natürlich, wenn man sich für Gerechtigkeit einsetzen will, wenn man das Recht kennt und weiss, wo man es ändern kann und beeinflussen.“
Nina: „Ja genau, in der Bio, die ich vorher vorgelesen habe, beschreibst du dich auch als politische Aktivist*in. Hat das in dem Sinn auch mit der rechtlichen Situation zu tun?“
Chris: „Ja, also auf jeden Fall. Also ich finde halt einfach, dass alle Menschen akzeptiert werden sollten von der Gesellschaft und vom Recht und das hängt zusammen und für das will ich mich einsetzen und setze ich mich auch ein. Ich versuche Aufklärungsarbeit zu machen wie Social Media. Ich teile selber meine Erfahrung, meine persönlichen Erfahrungen sind ein bisschen mehr auf Menschen mit Behinderung gemünzt, weil man meine Nonbinarität mir nicht so ansieht, aber ich bin jetzt auch offener und in meiner neuen Stelle als Bereichsleiter*in Gleichstellung und Sozialpolitik bei agile.ch, dort bin ich auch offiziell als Chris Heer und das steht auch auf meiner Visitenkarte und auch meine Emailadresse ist so und ich hab schon gemerkt, dass das zu Verwirrung führt (lacht).“
Nina: „Darf ich nachfragen: Was ist das für eine Organisation?“
Chris: „Das ist eine Behinderten-Dachorganisation von Selbstvertretenden. Genau. Und sagen wir es mal so: Bei den Behindertenorganisationen ist das so, dass sehr viele von der Fremdhilfe geprägt sind, also von der Fachhilfe, bei der also nicht-behinderte Menschen behinderten Menschen helfen wollen, aber das Ganze ist halt weniger aktivistisch, sondern mehr so hilfsmässig. Ich möchte aber mehr über die Selbsthilfe stärken und habe dort eben den perfekten Job gefunden (lacht), genau.“
Nina: „In welchen Bereichen merkst du, dass du tagtäglich vom Recht in Bezug auf Geschlecht oder Geschlechtsidentität beeinflusst wirst?“
Chris: „Ja, diesen Frühling ist mein Pass und meine ID abgelaufen und das ist wie so 2, 3 Monate nach meinem Coming Out gewesen und als ich mehr damit angefangen habe, mich mit Chris vorzustellen und ich habe gemerkt, dass es eigentlich nicht ganz stimmt, wenn ich den Pass wieder mit Christina verlängere und auch das F für weiblich passt eigentlich nicht. Und ich fand dann so: ‚Ja okay, es ist ja „nur“ ein Dokument und du brauchst das eigentlich auch nicht so viel.‘ Aber ja… Ich habe gemerkt: ‚Das stimmt eigentlich nicht, aber ich mache das jetzt, um halt reinzupassen‘ und weil ich nicht die Energie dazu hatte, den Namen noch abzuändern auf Chris. Ja da merke ich schon: Das ist noch eine ziemliche Hürde, weil das ist ein riesen Aufwand mit der Behörde und gerade eine Namensänderung muss ja auch vor Gericht und so… Und ein weder männlich noch weiblich, also ein drittes Geschlecht, eine dritte Option gibt es ja auch nicht in der Schweiz. Und ja, deshalb bin ich jetzt auf dem Papier immer noch die Alte (beide lachen).“
Nina: „Um langsam einzusteigen: Wir werden dann auch noch später über Menschenrechte und Gesetzeslagen reden, aber mich würde interessieren, wie das Recht historisch gesehen überhaupt entstanden ist?“
Chris: „Ja das Recht ist eigentlich schon sehr alt. Es regelt eigentlich das soziale Zusammenleben. Ich bin ja auch in den Genuss von Rechtsgeschichte gekommen an der Uni (lacht) und etwas vom Ersten sind die Fehdenrechte und Fehden, die durch Regeln beigelegt wurden. Also wenn dieser eine umbringt und dann darf dieser einen umbringen und dann ist das ist fertig. Und in der neueren Zeit ist es auch sehr viel von Religion geprägt. Also das Kirchenrecht war früher sehr ausgeprägt und hat auch unser Rechtssystem beeinflusst. Und was eigentlich auch noch das ganze Rechtssystem in Europa beeinflusst hat, ist das römische Recht. Also das war schon sehr fortgeschritten, was den privaten Rechtsverkehr betrifft, also Kauf und Verkauf von Sachen und so das Kaufmännische.
Ich glaube das Menschenrecht, also das was uns besonders interessiert, ist eher etwas jüngeres.“
Nina: „Um dort gleich weiterzufahren: Wie steht es denn so um die internationalen Menschenrechte oder wie steht es um die Menschenrechte international gesehen? Was bedeuten sie? Wie lange gibt es sie schon und sind eigentlich alle Länder dabei und unterstützen das und setzen es um?“
Chris: „Ja, die Menschenrechte sind eigentlich eine Errungenschaft der Moderne. Sie sind lokal entstanden: Zum Beispiel in den USA oder auch in Frankreich aufgrund der Französischen Revolution. Dann wurden erst eigentlich internationale Standards gemacht nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der UNO und der UNO Menschenrechtserklärung.“
Nina: „Und kannst du ein Beispiel geben, was jetzt so ein Menschenrecht ist oder was es regelt? Dass man sich das vielleicht im Alltag vorstellen kann?“
Chris: „Also, das wichtigste Menschenrecht ist die Würde, also Wahrung der Würde der Menschen, aber das ist ja auch sehr abstrakt, deshalb vielleicht eher ein politisches Recht wie Meinungsbildungsfreiheit. Da geht es einfach darum, dass Informationen in einem politischen Prozess zugänglich sind für alle und auch unabhängig kommuniziert werden, und dass alle Zugang haben zu dem. Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit sind zum Beispiel auch sehr zusammen, damit man auch seine Meinung frei kundtun kann, dass man demonstrieren gehen können. Das war jetzt ja auch ein bisschen ein Problem während Corona: Dass viele politische Dinge gelaufen sind und es aber schwierig war, zu demonstrieren.“
Nina: „Du hast es vorher schon angesprochen, dass es eine Errungenschaft ist, die vor allem durch die UNO, also durch die Vereinigten Nationen, vorangetrieben wurde. Und wie ist das dort: Setzen alle Länder, die dort dabei sind, die Menschenrechte richtig ein oder schauen, dass sie funktionieren, dass sie gewährt sind? Gibt es da eine Art Weltpolizei oder so, die schauen gehen kann und Sanktionen gibt? Wie sieht es da aus?“
Chris: „Das Ziel der UNO ist – glaub ich schon –, dass das so funktioniert, aber das Problem sind halt Interessenskonflikte intern, die auch durch die Entstehung der UNO entstanden sind. China, USA und Russland als die Gewinner des zweiten Weltkrieges haben ein Vetorecht und sind im ständigen Ausschuss und 10 andere Staaten sind abwechselnd. Die Schweizer zum Beispiel war auch mal vor ein paar Jahren. Und die haben einfach ein Vetorecht im ständigen Ausschuss und aus diesem Grund ist natürlich, dass wenn es diese Länder betrifft – und die haben auch Menschenrechtsprobleme –, dann wehren sie diese Sanktionen immer ab. Und aus diesem Grund ist es nie richtig neutral. Genau und das ist so ein bisschen das Problem. Die Idee wäre es schon und die Uno hat eigentlich auch extra keine Streitkräfte und manchmal tut sie die Nato – ist ein anderer Bund, der mehr militärisch unterwegs ist – beiziehen.
Von dem her: Ja, das wäre die Idee, aber es funktioniert nicht richtig, weil nicht alle Staaten gleichberechtigt sind. Und es ist auch sehr schwierig, wenn so viele verschiedene Interessen aber auch Wertvorstellungen vorhanden sind. Also ich setze mich jetzt ja auch mit meinem neuen Job mit der UNO Behindertenrechtskonvention auseinander. Also es gibt ja immer noch auf spezifische Menschengruppen – Frauen und Mädchen, oder Menschen mit Behinderung oder geflüchtete Menschen – da gibt es immer noch spezielle Menschenrechtskonventionen, die es dann die allgemeinen Menschenrechte ummünzt auf die spezielle Situation dieser besonders gefährdeten Menschen. Aber grundsätzlich: Wenn man die grundsätzlichen Menschenrechte richtig anwenden würde, dann bräuchte es diese Spezialkonventionen gar nicht, weil es geht eigentlich nicht weiter, sondern es ist eigentlich mehr eine Erklärung für die, die nicht betroffen sind und nicht wissen: ‚Ah, was braucht es jetzt wirklich?‘
Also zum Beispiel bei Menschen mit Behinderung ist so die Teilhabe an der Gesellschaft extrem wichtig und das sollte eigentlich klar sein, weil das geht ja auch von der Würde der Menschen aus, dass man nicht ausgeschlossen wird. Und da gibt es eben diese Ausschüsse. Und die Schweiz wird auch regelmässig bezüglich ihrer unterzeichneten Konventionen geprüft und man schaut: Was macht die Schweiz? Also jeder Staat eigentlich, aber wir sind in der Schweiz und deshalb sage ich jetzt die Schweiz. Was macht die Schweiz, um die Menschenrechte einzuhalten und zu sichern? Weil es ist halt ein sehr fragiles Gut und es wird sehr schnell eingeschränkt, es werden eben sehr schnell gefährdete Gruppen vergessen wie trans* Menschen, nonbinäre Menschen, inter Menschen. Und das ist eben so eine Praktik der Schweiz, dass inter Menschen eben schon oft als Baby Geschlechtsanpassungen bekommen. Das wird eigentlich von der UNO sehr verurteilt, aber das wird nicht so thematisiert in der Schweiz.
Das ist auch so ein bisschen das Problem, dass es uns wirtschaftlich sehr gut geht so im allgemeinen Durchschnitt, dass wir einen sehr hohen Lebensstandard haben und dann schon denken: ‚Ah für mich ist es gut, also ist es wahrscheinlich für die meisten gut.‘ Und das ist halt nicht so. Ich meine: Klar müssen wir nicht um die ganz ganz grundlegenden Dinge kämpfen wie Essen und Dach über dem Kopf – oder da haben wir relativ schnell noch Zugang –, aber wenn es halt wie weitergeht, da sind wir halt schon nicht so weit.“
Nina: „Das ist eigentlich eine perfekte Überleitung schon zu meiner nächsten Frage und zwar: Es gibt zum Beispiel in der Stadt Zürich des Regenbogenhaus, in dem sich zum Beispiel trans oder nonbinäre Menschen sichtbar vernetzen können oder Räumlichkeiten haben, um Büros zu haben oder Veranstaltungen zu machen und Projekte gemeinsam voranzutreiben. Die sind dort ja eben sehr sichtbar, sehr frei im Gegensatz zu anderen Orten, wo sie vielleicht eher im Untergrund agieren müssen, weil sie nicht akzeptiert sind. Aber dennoch gibt es rechtliche Diskriminierungen gegenüber diesen Personengruppen. Wie sehen die genau aus in der Schweiz?“
Chris: „Ja also etwas, was mich persönlich jetzt am meisten stört, ist, dass die Schweiz sich nachwievor weigert ein drittes Geschlecht zu anerkennen, und einfach, dass es immer noch sehr schwierig ist trotz den geplanten Vereinfachungen das eigene Geschlecht zu ändern von männlich auf weiblich oder umgekehrt. Und das ist das Rechtliche, das schwierig ist. Und dann kommt noch dazu: Ich merke einfach je länger ich in diesem Aktivismus auch bin sei es jetzt für Menschen mit Behinderung oder für trans Menschen – diese Dinge gehören ja auch zusammen, weil ein Mensch mit Behinderungen kann auch trans sein und so weiter – also diese Intersektionalität ist sehr wichtig und sollte auch immer mehr berücksichtigt werden. Jetzt habe ich den Faden verloren (lacht).
Also man nimmt immer nur so ein Thema raus und schaut das nur so isoliert an. Ich glaube das ist ein recht grosser Fehler. Und am Schluss geht es auch immer ein bisschen um die gleichen Themen: Selbstbestimmung über sein eigenes Leben, über die Lebensgestaltung und auch über den Körper.“
Nina: „Manchmal sind es ja auch sozusagen grosse Hürden, die man nehmen muss, damit man diese Rechte einfordern kann oder auch zum Beispiel, wenn man einen Namen ändern will, ist je nachdem wo man lebt auch mit grossen Kosten verbunden. Teilweise ist es aber auch eine grosse Abschreckung – also das finde ich schon nur wenn ich mir die Texte durchlese – was man alles für Dokumente bringen muss und das ist auch in einer Sprache geschrieben, die überhaupt nicht zugänglich ist, bei der ich manchmal auch denke: ‚Macht man das extra, um die Leute abzuschrecken?‘ und dass man sich gar nicht gross getraut, etwas zu tun, auch wenn es einem zusteht.“
Chris: „Ja, ich glaube das mit der Sprache ist wirklich etwas… Das ist eben diese Juristensprache, aber es ist eben nicht nur das, es ist auch wie es geschrieben ist. Zum Beispiel: ‚Dies ist unerlässlich.‘ oder keine Ahnung, das ist so fast ein bisschen angriffig, fühlt man sich. Weil eigentlich ich, die die juristische Sprache versteht und gebildet bin, fühle mich trotzdem abgeschreckt. Ich glaube es ist eben nicht nur die Sprache, sondern auch die Tonalität, wie es rübergebracht wird. Ich kann mir schon vorstellen, dass das auch ein bisschen extra ist.
Ich glaube einfach eben solange es noch vor einem Gericht entschieden werden muss, sind diese Richter*innen ja auch Menschen und die haben ja auch ihr Vorurteile im Kopf und stellen zum Teil schreckliche Fragen, die überhaupt nichts zur Sache tun, und verurteilen Menschen, die nicht in dieser Binarität leben. Zum Beispiel als trans Frau: Wenn man dann immer noch einen Bartschatten hat, wird das so: ‚Ah, aber wollen Sie denn nicht das weghaben?‘ oder so. Und das geht diese Person überhaupt nichts an. Oder wenn die Person noch keine Brüste hat oder so, das geht die Person gar nichts an. Das kann man in der eigenen Zeit machen und man fühlt sich dann trotzdem schon einem anderen Geschlecht zugeordnet. Und deshalb ja finde ich solche Dinge ziemlich schlimm, aber das ist halt so im Rechtssystem: Da sind am Ende immer Menschen dahinter und dort sind Vorurteile vorhanden.“
Nina: „Du hast ja vorhin auch das Thema Geschlechtseintrag erwähnt. Es gab ja auch schon Bestrebungen das zu ändern in der Vergangenheit und da warst du ja auch beteiligt oder hast dich dazu geäussert. Wenn du da ein bisschen mehr erklären magst, was man wollte und was man dann doch nicht erreichen konnte.“
Chris: „Ja, da geht es eigentlich darum, dass man nicht mehr vor Gericht gehen muss, um eine Geschlechtseintrag zu ändern, sondern dass man das vor Zivilstandsbeamtin/Zivilstandsbeamten vortragen könnte und die Zivilstandsbeamten würden dann das ändern. Aber dort ist eben eine Voraussetzung, dass man mündig sein muss und mündig heisst volljährig – in der Schweiz ist das 18 jährig – Und urteilsfähig: das heisst man darf nicht verbeiständet sein und das ist halt aus der Perspektive von Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Behinderung kann das sehr einschränkend sein, wenn dann die die Person, die der Beistand ist, nicht einverstanden ist oder das nicht unterstützen will. Da ist wieder eine Diskriminierung. Plus, ich glaube, wir, die jetzt nicht mit einer solchen Einschränkung leben, wissen, dass man mit 16 auch schon sehr gut weiss, – wenn man es weiss – welcher Geschlechtsidentität man angehört.“
Nina: „Es gibt ja auch manche Kantone wie Kanton Glarus, wo man in der Vergangenheit geändert hat und Personen mit 16 abstimmen und wählen können.“
Chris: „Ja, genau.“
Nina: „Also das heisst, dass es ist auch nicht so klar ist, in welchem Alter das ist, und dass es keine fixe Definition geben kann.“
Chris: „Ja genau. Ich glaube, wenn die Leute schon ab 16 abstimmen können, das wäre gut (lacht), aber das ist wie nochmal ein anderes Thema. Aber ich glaube, die Geschlechtsidentität müsste wie ein höchstpersönliches Recht sein, das man nicht entziehen kann, und die Wahl von dieser Identität auch. Und dann wäre es eben nicht an die Mündigkeit gebunden, wenn es als höchstpersönliches Recht anerkannt werden würde.
[Musik: Jingle FluiD im Format]
Nina: „Herzlich willkommen zurück auf gds.fm. Wir reden heute über die rechtliche Situation von nonbinären und trans Menschen in der Schweiz und weltweit. Wir sind mitten im Gespräch mit Chris und ich werde an dieser Stelle gerade gerne noch nachhaken, was noch ein Beispiel wäre für ein solches höchstpersönliches Recht?“
Chris: „Ja genau, das sind Rechte, die ganz eng mit der eigenen Persönlichkeit zu tun haben. Und aus diesem Grund kann man diese ohne Vertretung ausüben, wenn Urteilsfähigkeit vorhanden ist. Und zu diesen höchstpersönlichen Rechten gehört zum Beispiel die Eheschließung (lacht). Oder auch das Gegenteil, also die Scheidungsklage einzureichen. Und das ist halt wie ein Problem, wenn eine Person ganz urteilsunfähig ist, dann sind diese Rechte auch sehr tangiert.“
Nina: “Wir unterbrechen an dieser Stelle das Gespräch mit Chris und springen in einen theoretischen Input mit Tizi und schauen ein bisschen genauer auf unterschiedliche Diskriminierungsformen. Zum Anfang ist meine Frage, was ist Stigmatisierung und wie entsteht sie?”
Tizi: ”Damit es ein Stigma gegenüber einer Gruppe von Menschen geben kann, braucht es zum einen eine Situation, wo eine Mehrheitsgesellschaft die Macht hat und zum anderen fünf weitere Elemente. Das erste Element ist das Benennen, also die Gruppe wird erkannt und benannt. Das zweite Element ist das Stereotypisieren, das heisst es gibt negative Vorurteile gegenüber der Gruppe. Das dritte Element ist die Trennung, das heisst man spricht in der Mehrheitsgesellschaft von “uns” und die stigmatisierte Gruppe sind “die anderen”. Das vierte Element ist, dass die stigmatisierte Gruppe durch diese Trennung einen Statusverlust in der Gesellschaft erlebt und in der Folge (fünftens) diskriminiert wird.”
Nina: “Was für verschiedene Formen von Diskriminierung existieren?”
Tizi: “Die gängigsten Formen, die man unterscheiden kann, sind strukturelle, interpersonelle und individuelle Stigmatisierung oder Diskriminierung. Strukturelle Diskriminierung bezeichnet dabei gesellschaftliche Normen oder Gesetzgebungen, die den Zugang zu wichtigen Ressourcen einschränken. Zum Beispiel Gesetze oder Regelungen, die die Diskriminierung verstärken, Barrieren zum Zugang zum Gesundheitssystem oder Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Interpersonelle oder auch zwischenmenschliche Diskriminierung passiert, wenn binäre trans oder nonbinäre Personen verbale Belästigung, körperliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe erleben aufgrund ihrer Geschlechtsidentität. Weitere Beispiele für zwischenmenschliche Diskriminierung sind z.B. wenn mensch innerhalb vom Gesundheitswesen mit dem Deadname angesprochen wird, den Arbeitsplatz verlieren aufgrund der Geschlechtsidentität oder innerhalb der Familie abgelehnt zu werden. Dann gibt es noch die individuelle Stigmatisierung. Die passiert, wenn binäre trans oder nonbinäre Personen die negativen Vorurteile der Gesellschaft aufnehmen und selber zu glauben beginnen - psychologisch nennt man das das Internalisieren von Vorurteilen. Das kann sich z.B. darin äussern, dass man selber glaubt, weniger Wert zu sein, und das sich wiederum als Konsequenz negativ auf das psychische Wohlbefinden auswirkt.”
[Musik: Jingle FluiD im Format]
Nina: „Herzlich willkommen zurück auf gds.fm. Wir reden heute über die rechtliche Situation von nonbinären und trans Menschen in der Schweiz und weltweit. Wir sind mitten im Gespräch mit Chris. Wir sind ja bei der rechtlichen Situation in der Schweiz gewesen und in der Recherche auf eine sogenannte Rainbow Map gestossen, die auf einer Karte darstellt, wie es um die Rechte von trans Person oder nonbinären Personen steht, und verschiedene Länder miteinander vergleicht und so versucht, sozusagen eine Einordnung zu geben, welche gut daran sind, welche schlecht. Wie steht es denn um die Schweiz?“
Chris: „Also, die Schweiz hat sogar schon ein bisschen Mühe bei den ‚Mainstream LGBT-Rechten‘. Also zum Beispiel da die ‚Ehe für alle‘ auch noch nicht durch ist – da stimmen wir darüber ab im September. Alle bitte ‚Ja‘ stimmen (lacht) – und ich glaube dort beginnt das so ein bisschen damit, dass die Schweiz immer zuerst wie so zuerst einen Bruchteil gibt. Wie zum Beispiel beim Artikel gegen Hassreden sind halt nur LGB, also nur lesbische, schwule und bisexuelle, Menschen geschützt, aber genau trans Menschen, inter Menschen oder nonbinäre Menschen sind nicht geschützt.
Das heisst, man kann immer noch Hassreden gegen diese Menschen verbreiten, ohne dass das strafbar wäre und das ist halt schon ein ziemlicher Skandal. Das hat der Ständerat rausgenommen und das verstehe ich einfach nicht, wieso man gerade diese Gruppe, die eigentlich sehr vulnerabel ist und auch sichtbarer, dass man genau die nicht schützen will. Deshalb denke ich: Da ist noch ein weiter Weg, den die Schweiz zu gehen hat in dem Bereich. Und du hast gesagt in dieser Rangliste schneidet die Schweiz nicht so gut ab (lacht).“
Nina: „Ja genau. Also die Schweiz ist auf den 22. Platz von 49. Und es sind lediglich 39% der Menschenrechte von LGBTIQ+ Personen gewährleistet. Also mit 39% sind wir weit unter der Hälfte, da gibt es noch sehr viel zu machen.
Also um noch etwas Kontext zu geben: An der Spitze der Liste ist Malta. Sie erfüllen dort 93,7%. Zweiter Platz belegt Belgien mit 75% und das Schlusslicht der europäischen Länder ist es Aserbaidschan mit 2,3%. Und wenn man den Report spezifisch auf die Schweiz anschaut und auf das Thema Geschlechtsidentität fokussiert, kann man weiter noch lesen, wie sich die Schweiz noch mehr verbessern sollte: Mehr Massnahmen für Gleichberechtigung bereitstellen und sicherstellen; Dass auch familiäre Situationen wie Heiraten, Adoption etc. viel besser geregelt sind; Hassreden hast du schon angesprochen ; Das Verfügen auch über den eigenen Körper; und das queer Sein auch ein anerkannter Grund sein sollte für Asylgesuche.“
Chris: „Ja genau. Nonbinäre Menschen sind in der Schweiz noch gar nicht anerkannt, die Geschlechtsidentität nonbinär gibt es wie nicht. Und aus diesem Grund sind diese Menschen auch nicht speziell geschützt. Also klar wären sie eben durch die allgemeinen Menschenrechte auch geschützt, aber das ist halt nicht spezifisch, weil die Gesellschaft oder sehr viele Menschen gar nicht wissen, was überhaupt nonbinär ist. Die sind gar nicht vertraut mit dem und müssen nonbinäre Menschen automatisch binarisieren und halt entweder Mann oder Frau. Das merkt man halt schon auch, wenn man etwas bestellt im Internet oder ganz einfache Dinge: Dass man oft keine Anrede auswählen kann.
Und was auch noch wichtig ist in der Schweiz, dass die Menschenrechte nicht im Privatrecht geschützt werden oder dass das ein sehr schwieriger Schritt ist. Zum Beispiel marginalisierte Gruppen wie trans Menschen, nonbinäre Menschen, Menschen mit Behinderung sind nicht geschützt sind im Arbeitsumfeld, im Arbeitsrecht. Weil die Wirtschaft da höher gestellt ist und man das Gefühl hat in der Schweiz, das könnte ein Abbruch tun, und halt viel weniger die Vorteile der Diversität sieht. Und da steht die Schweiz sehr hinten an.“
Nina: „Könntest du ein Beispiel geben (lacht) für so eine Situation im arbeitsrechtlichen Kontext, wenn die eins einfällt?“
Chris: „Ja also im arbeitsrechtlichen Kontext sind eigentlich nur Frauen geschützt mit Gleichstellungsgesetzen, aber selbst das ist schwierig durchzusetzen. Und wenn man es mal versucht durchzusetzen, wird man stigmatisiert als ‚die Schwierige‘ und muss Angst haben, dass man danach nicht mehr eingestellt wird. Also ich glaube, da ist die gesetzliche Grundlage überhaupt nicht vorhanden, aber der Wille der Menschen oder das Bewusstsein nicht vorhanden, dass diese Menschen geschützt werden müssen.
Oder heutzutage sind wir schon ein bisschen weiter: Gewisse Firmen machen doch schon mal immerhin einen gendergerechten Sprachleitfaden, aber ob das angewendet wird oder nicht und wie fest das hinterfragt wird, kommt dann auch immer wieder darauf an, auf den Mindset dieser Menschen, und wenn es halt um Firmen geht, um das Mindset der Geschäftsleitung. Das ist ganz klar, dass das in der Schweiz sehr Top-down gemanagt wird. Und so ange man keine diversere Geschäftsleitung hat, wird das auch schwierig.“
Nina: „Und wie kann man sich gegen Diskriminierung rechtlich wehren?“
Chris: „Ja eben, es ist extrem schwierig als trans oder nonbinäre Person, weil – wie vorher erläutert – ist das ja die am wenigsten geschätzte Gruppe. Und gerade gegen Hassreden können sich keine Organisation wehren, sondern jede einzelne Person, die Hass direkt erfährt, muss sich wehren durch Tatbestand von Beschimpfung oder Verleumdung und das ist viel, viel schwieriger und viel aufwendiger. Und es bleibt die ganze Arbeit immer an der einzelnen, betroffenen Person hängen und das ist extrem ermüdend und auch ungerecht natürlich. Und von dem her sind im Moment die Instrumente noch nicht vorhanden, um strukturelle Diskriminierung zu beseitigen. Das heisst sich gegen strukturelle Probleme zu wehren, ist immer nur der ‚politische Weg‘, der halt ein langer und mühsamer Weg ist und für den viel Arbeit, viel Überzeugungsarbeit, viel Sensibilisierungsarbeit gemacht werden muss. Und das beginnt wirklich bei nonbinären Personen damit an: ‚Hallo, wir existieren! Und das und das…‘ Und ich glaube, das ist halt so schwierig. Und weil vielleicht noch binäre Personen auch weniger sichtbar sind, weil halt die Leute sie immer gleich in einen Ecken stellen: ‚Ah, diese Person wirkt jetzt männlich oder weiblich.‘ Da wird man immer gleich in das Eine oder andere eingeordnet. Um bis das aufhört, dafür braucht es noch sehr viel Arbeit.“
Nina: „Ja danke vielmals. Das war wieder ein perfekter Übergang zum nächsten Thema, das ich ansprechen wollte, und zwar: Dieses ‚Hand in Hand Gehen‘ von Recht und Politik und dort wollte ich noch auf verschiedene Movements und Aktivist*innen zu sprechen kommen, die es braucht, um die rechtliche Situation in einem Land zu beeinflussen oder auch zu verändern, was ich auch hoffe, dass das schon passiert ist. Und wenn wir uns an den Anfang der Sendung zurückerinnern, wie Recht historisch entstanden ist, hoffe ich, dass sich gewisse Situationen oder Zustände verbessert haben. Gibt es da noch spezifische Beispiele von einem Movement oder einer Aktivist*in, die du kennst und erwähnen willst?“
Chris: „Ja also, ich bin momentan fasziniert eigentlich vom Disability Movement – wie das jetzt so funktioniert hat in Amerika in den 70er und 80er Jahren. Da ist es darum gegangen, die politischen Rechte einzuführen. Und sie sich dann zuerst geweigert haben, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auch aufzunehmen. Oder sie wollten sie abschwächen, so: ‚Equal but separate‘ sozusagen. Das ist halt bei uns sehr ein Problem, wenn man halt sagt: ‚Ja, die behinderten müssen halt in eine andere Schule. Da macht man separate Strukturen.‘ Mich hat es erstaunt, weil ich hab früher immer gedacht oder alle haben mir immer gesagt: ‚Ja, in Amerika ist es halt viel besser, weil es ist ein kriegführendes Land und dann ist ja klar, dass sie den Veteranen und Kriegsverletzten auch ein gutes Leben bringen wollen.‘ Aber das war dann gar nicht so, sondern da waren auch sehr viele Geburtsbehinderte und Viele, die Polio – also Kinderlähmung – hatten, an der Spitze und sehr aktiv. Und Judy Heumann war eine Leaderin, die das angeführt hat.
Und ich habe einfach gemerkt: ‚Ja es braucht eine Bewegung, es braucht Sichtbarkeit, es braucht eine Besetzung oder eine längere Demonstration. Es braucht einfach diese Dinge und sie sind mega aufwendig und brauchen sehr viel Energie und eben auch sehr viel Vernetzung. Man muss sehr viele Leute motivieren können, auch etwas zu machen. Aber es braucht es einfach, um Gesetze durchzubringen, die dann auch diesen marginalisierten Menschen die Menschenrechte wirklich auch garantieren in ihrem Alltag. Weil ist ja schön und gut, wenn es in der Verfassung steht, aber wenn es nicht umgesetzt wird… Oder in der Menschenrechtserklärung ist ja schön gut, wenn da steht: ‚Die Würde der Menschen muss gewahrt sein.‘ Aber was heisst denn das für nonbinäre Personen, wenn wir nicht mal anerkannt werden vor dem Recht? Dann ist ja unsere Würde eigentlich verletzt und von dem her: Es braucht einfach diese Sichtbarkeit, den Durchhaltewillen, das Zeigen: Wir sind da, wir demonstrieren, wir besetzen vielleicht mal einen Platz oder ein Verwaltungsgebäude oder irgendwas.
Und das hat es damals halt eben auch gebraucht und das war damals nicht einfach so der Staat, der fand: ‚Ah ja, wir verletzen Menschen oder die kommen als Menschen mit Behinderung zurück und deshalb muss alles schön rollstuhlgängig sein usw.‘ Das war so nicht der Fall und das wird aber wie so gesagt: ‚Ah, in der Schweiz ist es weniger gut, weil wir kein kriegsführendes Land sind.‘ Aber so ist es nicht und ich glaube, das ist auch auf andere oder auf alle Gleichberechtigungsrechte und Menschenrechte übertragbar: Man muss einfach mit Nachhaltigkeit und immer wieder kämpfen. Und je mehr, dass man ist, und je mehr Unterstützung man hat, desto besser. Und das finde ich halt auch sehr wichtig, dass um Menschen, die nicht betroffen sind und sich aber als Ally einsetzen wollen, sind wir extrem froh. Weil es eben auch sehr viel Energie braucht, wenn man so direkt betroffen ist und sich wehren muss. Dass man wie auch froh ist, wenn man etwas abgeben kann: ‚Jetzt kann ich zum Beispiel nicht an eine Demonstration gehen, weil ich einfach nicht mehr mag, aber dafür gehen andere und treten für meine Rechte ein.‘ Das finde ich auch sehr wichtig und bin ich auch sehr dankbar für die Menschen, die das tun (lacht).“
Nina: „Wenn ihr mehr zu dem Thema wissen wollt, dann können wir ganz herzlich den Film Crip Camp empfehlen, den man auf Netflix anschauen kann. Bezüglich der Sichtbarkeit oder der nonbinären Sichtbarkeit haben wir in den letzten Tagen sehr erfreuliche Nachrichten gelesen aus Wales: Da gibt es nämlich jetzt an der Spitze der Verwaltung eines öffentlichen Amtes eine nonbinäre, geoutete Person. Da möchten wir ganz herzlich gratulieren zu diesem neuen Amt an Owen Hurcum in Wales.“
Chris: „Ja das ist mega cool zu hören. Und eben auch ich habe mich jetzt offiziell auch geoutet und werde in einer Position sein, in der ich viel Vernetzung machen werde auch mit Parlamentarier*innen. Und dann werde ich denen meine Karte geben, auf der das auch rüberkommt. Und ich finde es mega wichtig, aber ich merke auch: Es ist schon eine gewisse Hemmung da, weil man irgendwie auch Angst hat, dass man nicht ernst genommen wird. Aber andererseits braucht es auch diese Sichtbarkeit, dass diese Themen dann auch ernst genommen, behandelt und umgesetzt werden. Ja, das ist wie so ein bisschen ein Zwiespalt und deshalb bin ich sehr happy, gibt es das, und hoffe, es gibt immer mehr Menschen, die sich offiziell outen und sich für andere, nonbinäre Menschen einsetzen. Und natürlich auch in Politik und Verwaltung, weil das dann halt am Schluss auch die sind, die Gesetzgebung machen. Und vor allem auch die Verwaltung, die das Ganze immer vorbereitet. Und wenn natürlich ein Gesetzentwurf schon diverse Lebensentwürfe und Lebensrealitäten vorsieht, dann muss man auch nicht mehr so viel politisch abändern und hat schon eine bessere Ausgangslage.“
Nina: „Wenn man sich – du hast es schon gesagt – als Ally oder auch als betroffene Person engagieren oder mithelfen will, kennst du gerade eine coole Initiative oder ein Referendum, dass ganz wichtig ist und man supporten sollte?“
Chris: „Ja, also mega aktuell ist die ‚Ehe für alle‘ und man sollte ‚JA‘ stimmen und sein Umfeld auch aktivieren für das. Und ich glaube, wenn man sich speziell für trans und nonbinäre Rechte interessiert: TGNS. Und wenn man sich für inter Rechte interessiert: InterAction, das ist glaube ich vom Französischen her. Dort lernt man auch mega viel, die haben auch so Aufklärung: Was ist was? Dort kann man auf der Seite auch einfach ein bisschen surfen und die Organisationen finanziell unterstützen, oder eben, wenn sie mal eine Demonstration oder etwas veranstalten.“
Nina: „Die Zeit rast. Wir sind schon am Ende der Sendung angekommen und mir bleibt noch meine letzte und fast Lieblingsfrage und zwar: Was ist dein Wunsch für die Zukunft?“
Chris: „Mein Wunsch wäre halt wirklich, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben und akzeptiert werden in den Gesellschaften, auch wenn sie nicht den Lebensentwurf oder die Lebensrealität von der Mehrheit haben. Und so punkto Geschlecht fände ich es mega cool, wenn das Geschlecht in der Administration und auch im Arbeitsleben eigentlich keine Rolle mehr spielt, weil für mich ist es halt schon wie so. Und ich sehe nicht ein, wieso das so wichtig sein sollte. Also ich meine Geschlechtsausdruck klar, also wenn sich jemand gerne weiblich gibt oder so, das sollte schon möglich sein. Alle Formen sollten möglich sein. Aber halt einfach, dass es egal ist, ob jetzt jemand mit Bart und Lippenstift an einer Sitzung sitzt oder halt mega weiblich oder männlich. Das sollte keine Rolle mehr spielen.“
Nina: „Danke vielmals für das erleuchtende und inspirierende Gespräch. Danke, dass wir zusammen reden konnten.“
Chris: „Danke auch.“
[Musik: Fluid - Basit]
Nina: “Das war der Song Fluid von Basit. Basit ist eine nonbinäre, schwarze Artist Person aus Brooklyn. Basit macht Musik und ist auch als Model unterwegs. Ausserdem hat Basit das Schwarze, queere Produktionskollektiv Legacy mitbegründet, um vom weiss-zentrierten Storytelling wegzukommen. Ich weiss ja nicht, wie es Euch geht, aber ich habe langsam, aber sicher ein bisschen Hunger. Deshalb kommen wir nun zum gastronomischen Teil von dieser Sendung und zum Abschluss.
Als erstes schicke ich Euch ein Take-Away über den Sender und zwar ist unsere Konklusion oder Erkenntnis, dass die Existenz von trans Personen ein Politikum ist und bleibt, bis die grundsätzlichen Menschenrechte erreicht worden sind. Nochmals zur Erinnerung: In der Schweiz sind nur 39% der Menschenrechte von LGBTIAQ+ Personen erreicht. Es gibt also noch viel zu tun.
Und nun serviere ich Euch die Snacks. Nummer 1 ist der SRF DOK mit dem Titel ‘Hass gegen LGBTQ+ – Von Diskriminierung und Widerstand’. An dieser Stelle möchte ich eine Triggerwarnung aussprechen, weil in diesem Film einiges an homophober und transphober Gewalt zu sehen ist. Für direkt betroffene Personen ist es also sicherlich eine sehr schwere Kost, aber für andere Personen sehr, sehr wichtig zum Sehen und Erfahren, wie es in der Schweiz aussieht. Im Film werden mehrere Personen portraitiert und der Film erzählt über die rohe Gewalt, Herabsetzung und von den inneren Nöten dieser Personen. Es werden z.B. zwei werdende Mütter gezeigt, es geht um das Schicksal einer schwulen Person, welche als Gastarbeiter-Sohn in einem sehr homophoben Umfeld aufgewachsen ist, und es geht um die Ausgrenzung eines lesbischen Paares in einer Freikirche.
Weiter geht es mit dem zweiten Snack: Und zwar ist das die gratis Rechtsberatung für trans Personen von TGNS (Transgender Network Switzerland). Diese Rechtsberatung hilft v.a. trans Personen und anderen Personen und Institutionen, welche (rechtliche) Fragen zum Thema Transidentität haben. Wenn es Fragen gibt rund um die Kostenübernahme von Krankenkassen oder der Änderung von Namen und amtlichen Geschlechts, bei Rechten und Pflichten von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden, bis hin zu Fragen zum Strafvollzug, Asyl oder militärischer Dienst: Die Rechtsberatung von TGNS ist der richtige Ort zum sich Hilfe holen.
Beim dritten und letzten Snack geht es darum, wenn man selber mitmachen und sich einsetzen möchte. Wir empfehlen da QueerAMNESTY Schweiz. Das ist eine ehrenamtliche Gruppe und sie engagiert sich zum Thema Menschenrechte, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. QueerAMNESTY ist ein Teil von AMNESTY International Schweiz und die Gruppe besteht aus ca. 40 Aktivist*innen und wird von über 650 Mitgliedern und Spender*innen unterstützt. Alle drei genannten Snacks sind in den Shownotes verlinkt.
Zum Schluss bleibt mir nur noch eins, und zwar Danke zu sagen. Als erstes geht mein Dank an gds.fm und dort besonders an Michèle und Chrigi. Ohne sie wäre diese Sendung nicht möglich gewesen. Zeigt eure Unterstützung indem ihr eine Mitgliedschaft bei gds.fm löst. So helft ihr, dass gds.fm als unabhängiges und werbefreies Radio auch in Zukunft weiterhin besteht.
Diese Radioshow ist eines von mehreren Projekten von FluiD. Das queere Kollektiv kreiert u.a. Events, um Geschlecht auf eine spielerische Weise zu hinterfragen oder Radioformate, um über Geschlechtsidentitäten zu sprechen und gängige Rollenbilder zu hinterfragen.
Hast du Lust mit uns in Kontakt zu treten? Gibt es Fragen, die wir noch nicht beantwortet haben? Oder hast du einen generellen Input für die nächste Sendung oder kennst du eine Besuchsperson, die wir nicht verpassen dürfen? Schreib uns eine Mail an fluidimformat@gmail.com oder füll das Kontaktformular in den Shownotes aus. Danke fürs Zuhören, machs gut und bleib gesund!”
[Musik: Jingle FluiD im Format]